Bewertungskonzepte
Die Konzepte zur Bewertung der Betriebsfestigkeit und Materialermüdung sind historisch gewachsen. Mit ihren unterschiedlichen Ansätzen spiegeln sie die vorhandenen Möglichkeiten, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung vorhanden waren. Darüber kann auch ihre kontinuierliche Weiterentwicklung und Adaption an die Fähigkeiten der modernen Berechnungstechniken nicht hinwegtäuschen. Würde man heute mit einem weissen Blatt Papier beginnen, wäre es fraglich, ob ein Nennspannungskonzept über die Lehre hinaus noch eine so weite Verbreitung finden könnte. Da, zugegebenermassen auch zu Recht, die Wissensbasis der Industrie, die Normungsgremien und die Zulassungsstellen gerne auf bewährte Daten und Konzepte zurückgreifen, werden auch mittel- bis langfristig mehrere Ansätze parallel existieren.
Nennspannungskonzept
Beim Nennspannungskonzept werden äussere Lasten auf eine Nettoquerschnittsfläche bezogen, wodurch die Kerbspannungen an Querschnittsänderungen bewusst vernachlässigt werden. Diese werden stattdessen durch einen Kerbwirkungsfaktor berücksichtigt. Das Verfahren eignet sich für Bauteile mit einer einfachen Regelgeometrie, bei der sich ein Nennquerschnitt definieren lässt und verlässliche Werte für die Stützziffer, Form- oder Kerbwirkungsfaktor vorliegen. Das Verfahren basiert auf der Annahme eines elastischen Werkstoffverhaltens und kann nur verwendet werden, wenn dies auch zutrifft. Reihenfolgeeinflüsse des Belastungskollektivs gehen bei der Bewertung verloren. Ungeachtet dieser deutlichen Einschränkungen ist das Nennspannungskonzept noch immer sehr weit verbreitet, insbesondere im Stahl-, Kran- und Schiffsbau.
Strukturspannungskonzept
Das Strukturspannungskonzept findet vorwiegend seine Anwendung in der Beurteilung von Schweissverbindungen. Es stellt für diesen Fall eine Erweiterung des Nennspannungskonzeptes dar. Ermittelt wird die fiktive Strukturspannung mit einer FEM-Berechnung, bei der nur die grundsätzliche Geometrie der Konstruktion, nicht aber die lokale Nahtgeometrie modelliert wird. Dies hat den wesentlichen Vorteil, dass die Schweissnaht mit relativ grossen Elementen abgebildet werden kann. So lassen sich auch umfangreichere Strukturen mit einem vertretbaren numerischen Aufwand untersuchen. Dadurch wird allerdings in der Simulation nur die Kerbwirkung des Designs und nicht die der Naht berücksichtigt. Der Vergleich der so gewonnenen Strukturspannung mit der entsprechenden Strukturspannungs-Wöhlerlinie liefert die Ermüdungsfestigkeit. Analog zum Nennspannungskonzept liegt, mit allen damit verbunden Einschränkungen, auch hier die Annahme eines elastischen Werkstoffverhaltens zugrunde.
Kerbspannungskonzept
Beim Kerbspannungskonzept werden die tatsächlich im Kerbgrund vorliegenden Spannungen für die Bewertung des Ermüdungsverhaltens herangezogen. Grundlage hierfür ist die genaue Abbildung der realen Geometrie in der FEM-Simulation. Im Prinzip sind die so ermittelten Spannungen die um die Formzahl erhöhten Nennspannungen, weshalb sich das weitere Vorgehen bei der Ermüdungsbewertung nicht bedeutend vom Nennspannungskonzept unterscheidet. Dies ist einer der wesentlichen Vorteile dieser Methode. Mit ihr kann weiterhin auf die bestehenden Werkstoffkennwerte zurückgegriffen werden und zugleich entfällt die Beschränkung auf die wenigen bekannten Kerbfälle. Im Ergebnis können mit diesem örtlichen Konzept beliebig komplexe Geometrien untersucht werden. Zumindest solange die dem Kerbspannungskonzept zugrundeliegende Annahme einer elastischen Werkstoffbelastung gegeben ist.
Kerbgrundkonzept
Mit dem Kerbgrundkonzept oder besser dem Kerbdehnungskonzept wird die teils unrealistische Beschränkung auf eine rein elastische Materialbeanspruchung aufgehoben. Mit dem Kerbdehnungskonzept kann auch in Fällen, in denen eine Wechselplastifizierung stattfindet, eine Lebensdauer- oder Ermüdungsbewertung erfolgen. Basis für den Vergleich sind Dehnungs-Wöhlerlinien, die mit einachsig beanspruchten, ungekerbten Probekörpern ermittelt werden. Das Kerbgrundkonzept ermöglicht bei der Schadensakkumulation zudem die Berücksichtigung von Reihenfolgeeinflüssen.
Bruchmechanik
Liegt in einer zu untersuchenden Geometrie bereits ein makroskopischer Anriss vor, interessiert nicht mehr die Lastspielzahl bis zu einem Anriss, dieser ist ja bereits vorhanden, sondern nur noch der Rissfortschritt und die Aussage über die mögliche Restlebensdauer des Bauteils unter fortwährender zyklischer Belastung. Die vorgenannten Konzepte können dazu keine Aussage liefern. Antworten hierzu liefert die Bruchmechanik oder auch das Rissfortschrittskonzept.